28 März 2022

“Die emotionale Betroffenheit ist höher”

AWO-Geschäftsführerin Heidemarie Hanauske im Interview über die Herausforderungen der Flüchtlingswelle

Die Arbeiterwohlfahrt ist Schaumburg engagiert sich seit mehr als 40 Jahren in der Migrationsarbeit. Nach 2015 ist die Flüchtlingssozialarbeit mit dem Krieg in der Ukraine wieder in den Fokus gerückt. Wir haben mit AWO-Geschäftsführerin Heidemarie Hanauske über die aktuelle Situation, aber auch die Unterschiede zu 2015 gesprochen.

Frau Hanauske, als Awo-Geschäftsführerin haben Sie seit Jahrzehnten mit Asylsuchenden und der Flüchtlingssozialarbeit zu tun. Wo sehen Sie die Unterschiede und wo die Parallelen zwischen der Flüchtlingsbewegungen 2015 und 2016 und jetzt?
Der Fluchtweg aus der Ukraine ist zum einen deutlich kürzer, als aus Syrien, und er ist quasi geradlinig. Die Menschen bewegen sich nach der Grenze der Ukraine durchgehend auf europäischem Boden; die Kriegsflüchtlinge aus Syrien mussten, um europäischen Boden zu erreichen, das Mittelmeer überwinden. Die EU hat für die Ukrainerinnen und Ukrainer den Schutzstatus wegen Massenflucht nach Paragraph 24 des Aufenthaltsgesetzes geltend gemacht, sodass sie kein langwieriges Asylverfahren durchlaufen müssen und bis zu maximal drei Jahren in Deutschland bleiben können. Bei Bedarf haben sie Anspruch auf finanzielle Unterstützung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.
Als Parallele ist die große Hilfs- und Spendenbereitschaft zu nennen. Sowohl in Schaumburg, wie auch deutschlandweit.

Die Bereitschaft, persönlich Hilfe zu leisten, auch über reine Geldspenden hinaus, ist enorm, höchstens vielleicht vergleichbar mit der Hilfsbereitschaft nach der Flutkatastrophe im Ahrtal. So auch bei Menschen, die bisher Flüchtlingen kritisch gegenüberstanden. Was ist aus Ihrer Sicht der Grund dafür?
Die emotionale Betroffenheit aufgrund der Nähe des Kriegsschauplatzes ist deutlich höher, die Bedrohung wird auch persönlich empfunden. Wir als Gesellschaft gehen davon aus, dass uns die Menschen aus der Ukraine kulturell und auch religiös deutlich näher stehen.

Aber wie kann verhindert werden, dass die hohe Hilfsbereitschaft in den nächsten Wochen verpufft? Wer ist zuständig, um jetzt die notwendige Arbeit zwischen den Helfern und Hilfsbedürftigen zu organisieren und kanalisieren?
Ehrenamtliche Hilfsbereitschaft sollte gut begleitet werden. Für diese Abstimmung zwischen Helfenden und Hilfsbedürftigen ist die Plattform www.stadthagen-hilft.de ein sehr gutes Beispiel zur Vernetzung der handelnden Akteure in Schaumburg.
Das ehrenamtliche Engagement wird zwar auf Dauer etwas nachlassen, aber nicht ganz verpuffen. Die Erfahrungen belegen positive Wirkung auf beiden Seiten: Im Allgemeinen dient es der Toleranz und des Verständnisses für andere Kulturen, zum Teil bilden sich auch Freundschaften.
Gleichwohl bleibt ehrenamtliche Unterstützung freiwillig und unterliegt den eigenen emotionalen und zeitlichen Ressourcen.
Hinsichtlich der Zuständigkeit ist der Landkreis zu nennen, der die Wohlfahrtsverbände beteiligt.

Die Awo ist seit Jahren in den Flüchtlingsunterkünften des Landkreises aktiv, ist auch jetzt in der Vorbereitung auf die Menschen aus der Ukraine fest eingebunden. Welche Lehren haben wir in Schaumburg aus den großen Flüchtlingsströmen der Vergangenheit gezogen. Sind wir heute besser vorbereitet als 2015?
Grundsätzlich erstmal ja. Der Landkreis, als zuständige Behörde, hat als erstes den sogenannten „Stab“ einberufen, in dem alle bei dem Thema zuständigen Ämter, aber auch die AWO und das DRK, einbezogen sind. So können die in 2015 und 2016 erprobten und letztlich bewährten Strukturen in gemeinsamer Abstimmung aktiviert und „hochgefahren“ werden.
In Schaumburg existieren noch zwei Gemeinschaftsunterkünfte in Trägerschaft des Landkreises, deren Kapazitäten zumindest für eine vorübergehende Unterbringung aufgestockt werden. Ansonsten gilt auch für die Flüchtlinge aus der Ukraine, die sich hier längerfristig aufhalten wollen, das dezentrale Konzept, welches sich ja in Bezug auf die Integration sehr bewährt hat.
Auch für uns als AWO kann ich die Frage mit „Ja“ beantworten. Wir verfügen noch über ein dezentral aufgestelltes Team der Flüchtlingssozialarbeit, die für die Erstorientierung, Beratung und Betreuung qualifiziert sind. Viele ehrenamtlich Tätige in den Gemeinden haben unsere telefonische Beratung in den vergangenen Tagen dankbar in Anspruch genommen. Inwieweit unsere vorhandenen Kapazitäten ausreichen werden, wird sich in nächster Zeit herausstellen. Hier würde ich gern darauf hinweisen, dass wie Russisch oder Ukrainisch oder beide Sprachen beherrschende Sprachmittler benötigen.

Welche Fehler und Fallstricke sollten wir als Gesellschaft auf jeden Fall vermeiden? 
Wir dürfen keine kurzfristige Integration erwarten, denn Integration ist immer ein Marathon und kein Kurzstreckenlauf. Die Schulen stellen sich wohl bereits darauf ein, Flüchtlingskinder aufzunehmen. Sie müssen aber natürlich auch die dazu notwendigen Mittel und Rahmenbedingungen bekommen. Integrations- und Deutschkurse sind wieder in einem größeren Umfang anzubieten. Letztlich wird es dann auch um die Eingliederung in den deutschen Arbeitsmarkt gehen.
An dieser Stelle möchte ich erwähnen, dass bei den syrischen Flüchtlingen die Pandemie und die damit einhergehenden Corona-Einschränkungen zu erheblichen Integrationsabbrüchen geführt haben und diese Menschen in den zukünftigen Integrationsangeboten auch berücksichtigt werden müssen.
Insofern dürfen wir nicht zulassen, dass Flüchtlinge erster und zweiter Klasse entstehen.

Welchen Tipp können Sie Menschen geben, die jetzt helfen wollen? Wo ist die Hilfe am nötigsten, wer sind die richtigen Ansprechpartner?
Hier möchte ich an die Koordinierungsstelle Migration und Teilhabe beim Landkreis Schaumburg hinweisen und auch nochmal auf die Plattform www.stadthagen-hilft.de. Dort gibt es die Möglichkeit Zeit-, Geld- und Sachspenden zur Verfügung zu stellen, Wohnraum anzubieten und bei Bedarf kann von den dort genannten Institutionen abgerufen werden.

Um es zum Abschluss mit Angela Merkel zu sagen: Schaffen wir das, Frau Hanauske?
Wir haben aktuell neben der Flüchtlingssituation auch noch eine Pandemiesituation zu bewältigen. Aber ja, wenn wir als Europa zusammenstehen, dann können wir das schaffen.

 

Quelle: https://www.sn-online.de/Schaumburg/Landkreis/Aus-dem-Landkreis/Krieg-in-der-Ukraine-Wie-bewaeltigt-Schaumburg-die-Fluechtlingskrise-2022